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Die Schweiz braucht freiwilliges Engagement

03. August 2022

Die Schweiz braucht freiwilliges Engagement

Auf Einladung der Feuerwehrvereinigung Adliswil hielt Mario Senn am 31. Juli 2022 auf der Wacht eine 1. August-Ansprache.

Jeweils am Vorabend zum 1. August, dem Schweizer Bundesfeiertag, organisiert die Feuerwehrvereinigung Adliswil ein Fest mit einem Gastredner. Als Redner 2022 wurde Mario Senn als neugewählter Stadtrat und Ressortvorsteher Sicherheit, Gesundheit und Sport ausgewählt.


Nachfolgend ist die Rede abgedruckt (es gilt das gesprochene Wort):


Liebe Adliswilerinnen und Adliswiler,

sehr geehrte Damen und Herren,

lieber Florian Kälin.


Die Feuerwehrvereinigung hat mich angefragt, ob ich als neugewählter Stadtrat und neuer Vorsteher Sicherheit, Gesundheit und Sport – und damit auch verantwortlich für die Feuerwehr – heute Abend die Ansprache halten würde. Ich habe mich über diese Einladung sehr gefreut und fühle mich auch geehrt.


Die Freude ist allerdings ein wenig verflogen, als Florian Kälin zu mir sagte, meine Ansprache solle dann bitte nicht politisch sein.


Florian, das ist also nicht ganz einfach für einen Politiker!


Selbstverständlich kann ich ein paar unpolitische Sachen sagen. Zum Beispiel möchte ich ganz herzlich den Organisatoren danken. Es ist grossartig, dass die Feuerwehrvereinigung, nun schon seit einigen Jahren, den Abendanlass rund um den 1. August bestreitet.


Als Kind war ich regelmässig hier auf der Wacht. Zu einer Zeit, als es noch Höhenfeuer gab… Aber leider schlief dieser Brauch ein, es fand sich niemand mehr, vor allem kein Verein, der den Abend mitorganisierte. Ich freue mich, dass die Feuerwehrvereinigung diesen Brauch wieder zum Leben erweckt hat.

Wir haben in Adliswil eine freiwillige Feuerwehr. Sie lebt davon, dass sich genügend Freiwillige finden, die bereit sind, im Ernstfall alles liegen zu lassen und zu helfen. Und das häufig auch unter Lebensgefahr. Die Feuerwehr Adliswil, aber auch die mit ihr verbundene Feurwehrvereinigung, ist für mich ein Musterbeispiel für gesellschaftliches Engagement.

Es ist freiwillig. Wer kann, der leistet etwas für die Gesellschaft. Denn die Feuerwehr ist für alle da. Das ist für mich gelebte Solidarität. Und ich bin jedem, der oder die sich in der Feuerwehr Adliswil engagiert, unendlich dankbar.

Das tönt jetzt wie ein Werbespot für die Feuerwehr Adliswil. Das soll es auch sein; wir brauchen immer neue Mitglieder. Aber vor allem bin ich mit meinem Lob für das freiwillige Engagement für die Gesellschaft mitten in einem politischen Thema.


Wir feiern morgen den 1. August und damit unser Land. Lieber Florian, es tut mir leid, aber da braucht es einfach ein paar politische Bemerkungen!

Wir feiern morgen die Schweiz. Also reden wir doch über die Schweiz. Die «Schweiz», das sind WIR. Was macht uns speziell?


Ich habe vorhin gesagt, dass der heutige Anlass nur wegen einem Verein – der Feuerwehrvereinigung – und freiwilligem Engagement durchgeführt werden kann. Ich behaupte, dass die Mitwirkung in Vereinen etwas typisch Schweizerisches ist. Diese Mitwirkung, dieses Mitmachen, beschränkt sich aber nicht nur auf die Vereine, sondern gilt auch auf die Politik, wo jeder mittun kann, oder für die Armee, wo wir ebenfalls erwarten, dass jeder – zumindest die Männer – mitwirken. Es ist bei uns nicht so, dass auf der einen Seite «das Volk» und auf der anderen Seite «der Staat» oder «die Politik» steht. Sondern jeder ist beteiligt an unserem Land, quasi Aktionär oder, noch besser, Genossenschafter. Dem französischen König Ludwig XIV. wird der Ausspruch «L’État, c’est moi» zugeschrieben. Der Staat bin ich. Bei uns gilt «L’État, c’est nous». Der Staat sind wir. So, und damit haben wir auch genügend Französisch gemacht für heute Abend.


Was sind die Folgen von diesem einzigartigen Staatsverständnis? Ich glaube, dieser Staatsaufbau von unten nach oben, dieser Vorrang für privates Engagment hat viele Vorteile. Wir haben eine verhältnismässig tiefe Staatsverschuldung, einigermassen tiefe Steuern, trotzdem gute Infrastrukturen, gute Schulen. Durch die Corona-Pandemie sind wir mit weniger Einschränkungen gekommen als andere, man hält Mass und beschliesst nicht überbordende Staatsausgaben. Und es gibt das Verständnis, dass alles, was der Staat ausgibt, auch von irgendwem erarbeitet werden muss. Man traut den Menschen mehr zu und hält das Prinzip der Eigenverantwortung hoch. Etwas salopp gesagt ist bei uns der Bürger noch Bürger und nicht Untertan.


Alles paletti, also? Wir können uns auf die Schulter klopfen und stolz auf unser Land sein. Heisst das aber auch, dass wir für die Zukunft gewappnet sind? Sind wir bereit für die sich abzeichnende Energiemangellage? Haben wir Lösungen für die schöne Tatsache, dass wir immer älter werden? Sind wir bereit für geopolitische und bewaffnete Konflikte, wie sie sich seit dem 24. Februar nur wenige hundert Kilometer östlich vor uns abspielen?

Ehrlich gesagt: Ich habe meine Zweifel. Denn das besondere Staatsverständnis, was ich Ihnen beschrieben habe, trifft nur noch teilweise zu. Ich habe beruflich regelmässig mit Deutschen zu tun. Und die sind tatsächlich immer fasziniert, wenn sie sehen, wie ein Land auch mit weniger Regeln funktionieren kann. Und wie die Schweiz mit tiefen Steuern und direkter Demokratie ganz ordentlich funktioniert und nicht in Chaos zusammenbricht. In Deutschland schaut man hingegen immer sogleich auf die Politik und fordert, dass man etwas macht, ein Verbot, eine neue Förderung, ein neues Gesetz oder sonst was beschliesst. In Frankreich oder in Österreich ist das ganz ähnlich.


Mein Eindruck ist, dass wir unsere Einzigartigkeit, nämlich einen zurückhaltenden Staat und der Vorrang für private Initiative, immer mehr weggeben und uns so Schritt für Schritt unseren Nachbarländern anpassen.

Das beginnt im Kleinen, hier in Adliswil. Es ist bei weitem nicht mehr selbstverständlich, dass man sich engagiert. Sei es in der Feuerwehr, sei es in Vereinen, sei es aber auch in der Politik. Überall fehlen Leute, die sich freiwillig engagieren. Was ist die Folge davon? Man erwartet immer mehr von der Stadt. Die Ansprüche an den Staat steigen.

Aber auch im Grossen. Wir leisten uns in vielen Bereichen einschränkende Gesetze, die Innovation abwürgen. Versuchen Sie mal in der Schweiz, in Ihrer Garage, das nächste Microsoft oder Google zu gründen. Das ginge gar nicht, weil die Baubehörde sagen würde, das sei nicht zonenkonform. Und wenn Sie in Ihrem Jungunternehmen etwas länger in den Abend oder am Sonntag arbeiten, laufen Sie ständig Gefahr, das Arbeitsgesetz zu verletzen.

Und spätestens mit Corona hat eine Haltung Einzug gehalten, dass der Staat, also die Allgemeinheit, jedes Risiko übernehmen und alles ausgleichen muss. Das gilt insbesondere auch für die Wirtschaft, für die selbst heute noch Corona-Hilfsmassnahmen greifen. Unternehmen, die selber vorgesorgt und ein Polster aufgebaut hatten, wurden faktisch bestraft.


Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts gegen eine gute soziale Absicherung über unsere Sozialversicherungssysteme. Aber mich stört die Ansicht, dass bald jede Lebenssituation ein Problem ist und man deswegen Unterstützung benötigt. Überall meint man ein Opfer zu sein, diskriminiert zu werden – und der Staat soll das bitteschön ändern. Es kommt mir so vor, als würde der Staat, also die Gesellschaft, wir alle, immer mehr als Selbstbedienungsladen gesehen. Die Stadt, der Kanton oder der Bund, die sollen jetzt einmal etwas machen.

Man schreibt ja immer, dass wir immer individualisierter werden. Das stimmt und ist auch per se nicht problematisch. Aber es ist häufig nicht eine Individualisierung im Sinn von «lasst mich in Ruhe, ich löse meine Probleme schon selber», sondern eine im Sinn von «Ich will – aber ihr sollt dafür bezahlen».


Und ich wundere mich auch etwas darüber, wie leichtfertig man vom Staat Lösungen für alle Probleme erwartet.

Es gibt Umfragen zu den vertrauenswürdigsten und am wenigsten vertrauenswürdigsten Berufen. Ganz oben auf dieser Rangliste finden sich die Feuerwehrleute, dann die Krankenpfleger und Sanitäter. Auch die Polizei ist weit oben. Etwas weiter unten sind Bankangestellte. Wissen Sie, wer ziemlich am Ende ist? Staatsangestellte, Journalisten und Politiker! Die Handelszeitung titelte «Schweizer vertrauen der Feuerwehr und fürchten Politiker».


Ich weiss nicht, ob Sie mich fürchten. Aber: Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie finden, der Staat – die Stadt, der Kanton oder der Bund – müsse noch dieses und jenes machen, soll noch dieses oder jenes Problem lösen, soll Ihnen helfen, dann verlangen Sie von jenen Leuten die Lösung eines Problems, denen Sie am wenigsten vertrauen.

Sie können es unschwer erkennen: Mir macht diese Entwicklung, alles, seine eigenen Probleme, auf die Allgemeinheit zu übertragen, Sorgen. Ich finde das, erlauben Sie mir diese Bemerkung, auch nicht besonders schweizerisch.


Ich glaube aber auch, dass diese Entwicklung dazu führt, dass wir letztlich unseren Staat überfordern mit immer neuen Aufgaben und gleichzeitig die Kernaufgaben nicht mehr richtig wahrnehmen. Und leider muss man sagen, dass es immer auch zu Entmündigung führt. Weil mit jedem Problem, das wir dem Staat delegieren, mir signalisiert wird, dass man mir die Lösung nicht selber zutraut. Selbstverständlich führt das auch immer zu einer Verdrängung von privaten Initiativen, von Eigeninitiative.


Wir stehen als Land vor grossen Herausforderungen. Energieversorgung, Inflation, Alterung der Gesellschaft usw. Es ist klar: Diese lösen wir nur gemeinsam. Aber gemeinsam heisst für mich nicht, dass wir alles dem Staat delegieren. Gemeinsam heisst für mich, dass wir uns alle engagieren und einsetzen. Es funktioniert einfach nicht, wenn alle meinen, die anderen machen dann schon. Sonst funktioniert insbesondere die Schweiz nicht.

Das ist übrigens für mich auch solidarisch. Solidarität ist für mich nicht, wenn wir alles dem Staat delegieren und finden, die Stadt, der Kanton oder der Bund sollen mal und ich, ich mache einfach weiter wie bisher. Nein, Solidarität ist für mich freiwilliger Einsatz fürs Gemeinwohl. Wie es die Feuerwehr oder die Feuerwehrvereinigung macht. Wie sich ganz viele als Trainer im FC Adliswil, bei den Hard Sticks oder im Turnverein engagieren.

Es ist das was wir für die Zukunft brauchen: Menschen, die Verantwortung übernehmen. Für sich, für ihre Familie, aber auch für die Gesellschaft, für die Gemeinschaft. Menschen, die nicht nur fordern, die anderen sollen nun mal oder zumindest bezahlen sollen die anderen. Oder die Stadt soll mal.


Ich weiss, diese Botschaft ist nicht nur populär und sie entspricht auch nicht dem Zeitgeist. Es ist auch nicht immer angenehm. Aber aus eigener Erfahrung – ich durfte bei der Gründung von zwei Vereinen in Adliswil mitwirken und war in beiden auch im Vorstand – kann ich sagen: Es ist auch unglaublich befriedigend, wenn man sich freiwillig im Verein, im Militär, in der Politik oder sonst irgendwo einbringt. Und ich bin fest überzeugt, dass es für uns alle auch günstiger ist. Und ganz nebenbei habe ich viele interessante Menschen kennenlernen dürfen und neue Freundschaften knüpfen können. Darum glaube ich auch, dass Vereine das beste Integrationsprogramm sind.


Ich habe begonnen damit, wo sich die Schweiz von anderen Ländern unterscheidet. Und ich habe Ihnen gesagt, wo ich finde, dass diese Unterschiede immer mehr verschwinden. Und weshalb ich das nicht gut finde.

Deshalb schliesse ich mit einer Bitte. Eigentlich ganz bescheiden. Sie ist einfach und schwer zugleich: Helfen Sie mit, dass die Schweiz nicht ein ganz normales europäisches Land wird.


Ich möchte nicht in einem Land leben, wo ich nicht mitreden kann, wo ich maximal besteuert werde, wo die Staatsverschuldung der nächsten Generation jeglichen Spielraum nimmt, wo Vereine keine Rolle spielen und wo man mich als Untertan sieht und nicht als Bürger. Ich will Verantwortung übernehmen. Ich möchte, dass Sie Verantwortung übernehmen. Für sich, für Ihre Familie, für Ihr Umfeld, für Adliswil und für unser Land.

Helfen Sie mit. Bringen Sie sich ein: Sei es in der Feuerwehr, sei es in einem anderen Verein, sei es in der Politik. Tragen Sie Verantwortung, schauen wir, dass die Schweiz nicht einfach ein ganz normales europäisches Land wird.


Ich danke der Feuerwehrvereinigung für die Einladung und Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und morgen einen schönen 1. August.